Anne Schülke: Raumfiktion im Werk Paul Nizons

Ich bin ein vorbeistationierender Autobiographie-Fiktionär.

Diesen Satz zitiere ich aus dem Essay „Am Schreiben gehen“ aus dem Jahr 1985, in dem Paul Nizon die Geschichte seines Werks kommentiert. Der Satz betitelt ein Kurzfilm-Selbstportrait für das literarische Colloquium Berlin, ist also Teil der öffentlichen Selbstinszenierung des Schriftstellers. Nizon macht sich selbst und die Dichtung zum Gegenstand seines Schreibens, er ist kein engagierter Schriftsteller auf den politischen Bühnen, sondern inszeniert einen erinnernden Schreibprozess. Sein poetisches Verfahren entschärft Gegensätze: Wer vorbeistationiert, geht und steht gleichermaßen. Wer über sich selbst schreibt, dichtet. Die Spannung zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen der referentiellen Schreibpraxis des Autobiographen und der fiktionalen Schreibpraxis des Schriftstellers charakterisiert sein Werk. Es wurde bereits sowohl als ‚Autofiktion’ rezipiert, als auch unter raumtheoretischen Gesichtspunkten untersucht. Im Folgenden skizziere ich Fragen an Nizons Werk, die beide Perspektiven miteinander verbinden und so den Diskurs über ‚Autofiktion’ um ein Nachdenken über Nizons ‚Raumfiktionen’ erweitern. Ausführlich habe ich mich mit diesen Fragen in der Studie ‚Autofiktion’ in Paul Nizons Werk, die Anfang 2014 beim Aisthesis Verlag erschienen ist, beschäftigt.

Ich bin ein vorbeistationierender Autobiographie-Fiktionär.

Der Neologismus „Autobiographie-Fiktionär“ führt zunächst auf die Fährte des aktuellen Autobiographie-Diskurses, der auch das Konzept ‚Autofiktion’ thematisiert. ‚Autofiktion’ lässt sich mit dem Erfinder dieses Wortes, dem Schriftsteller und Kritiker Serge Doubrovsky, als Überschreitung der Grenze zwischen Text und Leben in einer Welt der über all präsenten Medien verstehen. Es ist eine repräsentationskritische Perspektive auf das Verhältnis zwischen Autor, Text und Öffentlichkeit. Der Schriftsteller Alain Robbe-Grillet versteht ‚Autofiktion’ als bewusste Strategie eines Autobiographen, der mit dem Einsatz romanhafter Fiktion versucht, der narzisstischen Falle zu entgehen, die bei dem Versuch der literarischen Selbstdarstellung notwendig aufgestellt ist. Er fokussiert unter psychologischen Gesichtspunkten das Autor-Ich und den Effekt des Erfindens. Aus zeichentheoretischer Perspektive benutzt die Literaturwissenschaftlerin Claudia Gronemann das Konzept ‚Autofiktion’, um zu beschreiben, wie in einem autobiographischen Text kein außertextlicher Sinnzusammenhang hergestellt werden kann: Weder Bezüge zur Welt noch zum Ich sind verbindlich. Sie betont den Zeichencharakter der Sprache.

Währen dich das werk Paul Nizons untersuchte, entdeckte ich Analogien und Unterschiede zu den oben skizzierten Definitionen: Nizons Themen sind die Erfindung eines Ich und eines Romans. Er fokussiert beim Schreiben die Wahrnehmung. Das Ich – Nizon folgt dem Stand der zeitgenössischen Erkenntnistheorie und geht davon aus, dass es immer ein vorgestelltes, erdachtes, ein fiktives Ich ist – der frühen Texte konstituiert sich über den Vorgang der Wahrnehmung. Charakteristisch ist in „Die gleitenden Plätze“ (1959) und „Canto“ (1963) nicht die bekenntnishafte Innenschau, denn im Innern wäre gar nichts zu finden. Es handelt sich auch nicht um ein Schreibverfahren, das sich mit dem auseinandersetzt, was wahrgenommen wird und sich selbst rechtfertigend dazu in Beziehung setzt. Das Ich bildet sich vielmehr während des Wahrnehmungsprozesses. Nizon hat in den 1970er Jahren mit „Im Hause enden die Geschichten“ (1971), „Untertauchen“ (1972) und „Stolz“ (1975) Versuche unternommen, in tradierten Formen des Romans zu schreiben, Handlung und Figuren zu entwickeln, nimmt dabei aber immer Abstand von einem starken Autorsubjekt. Sein Rollenverständnis als Autor in Bezug auf sein Schreiben thematisiert er durchgehend und beginnt in den 1980er Jahren sowohl in Form von Metakommentaren im Prosatext „Das Jahr der Liebe“ (1981) also auch in Form eines Essays, „Am Schreiben gehen“ (1985), seine Prosa intensiv zu reflektieren. Wo bildet sich das verzwickte Verhältnis zwischen Leben und Schreiben besser ab als in der Form des Tagebuchs? Nizon beginnt in den 1990er Jahren mit der Veröffentlichung seiner Journale. Sie haben verschiedene Funktionen: Sie sind Medium der Selbstvergewisserung, Medium der Selbstanalyse und Materiallager. Er bietet sie als Teil seines Werks an und verleiht damit dem Konzept ‚Autofiktion’ eine weitere Bedeutungsnuance: Im Falle des Journals stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Autor, Text und Leser erneut, aber anders. Der Leser rezipiert das Journal in der Regel zunächst als faktisches Erzählen, als Erfahrungsbericht einer Ich-Entwicklung oder Erinnerungsarbeit mit häufig bekennendem Charakter. Das Arbeitsjournal bzw. die Materialsammlung lässt sich dagegen als Vorstadium eines fiktionalen Textes verstehen. Der Schriftsteller entwickelt Figuren oder skizziert Szenen, die in späteren Romanen ausgearbeitet wieder auftauchen. Das Journal ist die treffende Form für einen Schriftsteller, der ohnehin nicht zwischen Leben und Schreiben trennt, der sein Leben dem Schreiben angleicht, der die – bei Nizon immer existenzorientierte, also nach der Verfasstheit des Menschen fragende – Suche nach dem Leben mit der Suche nach dem Schreiben als untrennbar miteinander verbunden darstellt. In den späten Texten „Im Bauch des Wals“ (1989), „Hund. Beichte am Mittag“ (1998) und „Das Fell der Forelle“ (2005), die parallel zu den Journalen erscheinen, entwickelt Nizon schließlich eine Existenzfigur: Den Marschierer. Er hat eine metaphorische Bedeutung: Der Marschierer ist der Mensch in Bewegung, der gehende Mensch, l’homme qui marche.

Nizon hat diese Abbildungen von Skulpturen des Bildhauers Alberto Giacometti in „Im Bauch des Wals. Caprichos“ von 1989 und in „Hund. Beichte am Mittag“ von 1998 veröffentlicht. Ich verstehe das als Aufforderung, nach Giacomettis Idee des Raums zu fragen. Er notierte 1949: „Der Raum existiert nicht. Man muss ihn erschaffen.“ Die Idee des Raums als Behälter oder Container ist verabschiedet, an ihre Stelle tritt die Vorstellung, dass Raumerfahrung stets von einem Subjekt, einem Körper gemacht wird. Die Vorstellung des einen Raums wird ersetzt durch eine vielgestaltige Topologie. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den bewohnten Raum, auf den imaginären, energetischen, kognitiven, statischen, bewegten oder den Raum des Traums. Raum wird nicht länger als zeitlose Größe verstanden, sondern als Geschehen.

Nizons Marschierer entwickeln in der Bewegung ein Ich und ein literarischer Text wird sichtbar. Bemerkenswert an Nizons Ich-Konstitution und Literaturproduktion ist, dass das Ich sich nicht vollständig konstituiert. Es hat den Charakter einer Abwesenheit: Ähnlich einer Ahnung oder Erwartung, einem Schatten oder einem Duft ist es etwas, das gerade noch da war oder bald kommen wird. Seine Prosa verweigert folgerichtig Form- oder Gattungsvorgaben, sie hat die Gestalt des Entwurfs und gibt sich prozesshaft. Nizon schreibt keine Romane, und keine Autobiographie. Es ist zu beobachten, dass es in seinen Texten kein Gegenüber gibt, keinen Anderen, so wie man es im Kontext des Nachdenkens über die Ich-Werdung aus der Rollensoziologie oder Psychologie kennt. In Nizons Literatur entstehen keine Figuren mit Vorgeschichten, Wünschen, inneren Dialogen oder Beziehungen zu anderen Figuren. Es gibt keinen Gegenspieler, kein Alter Ego. Aber es gibt Bewegung. Sie stellt Bezüge her zu Orten – zum Schachtelzimmer, zur Metropole, zur Straße, zum Bordell, zur Bar oder zum Hotel – und erschafft einen Raum.

Bisher wurde kaum ausführlich über die Bedeutung der räumlichen Konstruktionen in Nizons Werk und über die Poetiztät der Sprache Nizons geschrieben. Dieser Umstand ist vermutlich der anhaltenden Auseinandersetzung mit der – auch von Nizon selbst anregten und durch seine Selbstaussagen in Essays und Journalen vorangetriebenen – Debatte um das Ich in seiner Literatur und dem faszinierenden und zur Identifikation einladenden Konzept eines schöpferischen und heilenden Akt des Schreibens geschuldet.

Ich bin ein vorbeistationierender Autobiographie-Fiktionär.

Der Neologismus „vorbeistationierend“ ermöglicht einen Zugang zur künstlerischen Sprachverwendung in Nizons Werk und verweist auf eine raumtheoretisch fundierbare Poetologie, die ‚Autofiktion’ und ‚Raumfiktion’ mit einander verbindet. In der erwähnten Studie untersuche ich die von Nizon verwendeten räumlichen Metaphern, die die charakteristische Spannung zwischen Stillstand und Bewegung herstellen. Signifikant sind räumliche Konstruktionen, die sich an der Oppositionsstruktur ‚innen und außen’ (horizontal) und ‚oben und unten’ (vertikal) orientieren. Nizon konstruiert Räume der Abwesenheit, die diese Oppositionsstruktur entschärfen. Es sind Orte des Schreibens, die Schreiben als kritische Selbstpraxis ermöglichen. Sie befinden sich in den Lücken zwischen Leben und Schreiben, an der „Flimmerfront zwischen außen und innen“. Diese These möchte ich im Diskurs über Raumtheorien platzieren, bevor ich beide Gedanken miteinander verbinde und zeige, dass Ich-Konstitution, literarische Produktion und Raumkonfiguration in Nizons Poetologie untrennbar miteinander verbunden sind.

„Das Nachdenken über Raum und Räumlichkeit hat Konjunktur“ schreiben Winkler, Seifert und Detering in dem Aufsatz „Die Literaturwissenschaft im Spatial Turn“ von 2012. Sie skizzieren die Entwicklung des ‚spatial turn’, der einem Impuls aus den Sozialwissenschaften folgte und im Bezug zum geographischen Raum zu verstehen ist. Der Humangeograph Edward W. Soja entwickelte, sich auf Lefebvres Idee vom Raum als Produkt, also als Teil einer sozialen Praxis beziehend, ein dreiteiliges Raummodell: Der Erstraum ist der physisch-empirische wahrgenommene Raum, der Zweitraum ist der imaginierte, vorgestellte oder konzipierte Raum des Wissens und der Zeichen, der Drittraum ist der real-imagnierte Raum, ein hybrider Raum, der gleichermaßen fiktiv und real ist. In der Literaturwissenschaft seien es vor allem Bertrand Westphals Geokritik und Barbara Piattis kartographische Visualisierungen von Schauplätzen und Handlungen literarischer Texte, die versuchen das Konzept des Drittraums in ihren literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zu verwenden. Im Zusammenhang mit Nizons Werk sind weniger real-geographische Räume, als deren Repräsentationsformen von Bedeutung. Daher gehe ich im Folgenden auf Ansätze des sogenannten ‚topological turn’, hier vor allem auf solche, die sich auf imaginäre Räume oder die literarische Darstellung innerer Räume beziehen, ein. Diesen Ansätzen liegt meist ein zweiteiliges Raumdenken zugrunde, das lebensweltliche und hergestellte Räume unterscheidet. Das Modell eines real-imaginierten Raumes, eines hybriden Raums, wie es Lefebvre und Soja entwickelt haben, wird dort interessant, wo sich damit ein dynamisches Raumerleben beschreiben lässt. Nizon entwickelt in seiner Prosa raumzeitliche Konstruktionen – Zwischenräume und Zwischenzeiten –, die im erinnernden Schreibprozess Gestalt annehmen und in denen sich ein Ich konstituieren kann. Raum und Zeit sind auch im autofiktionalen Text nicht unabhängig von einander zu verstehen.

Bereits vor dem ‚spatial turn’, der sich aus Sojas neomarxistischer Stadtgeographie entwickelt hat, wurde Raum literaturwissenschaftlich untersucht. Besonders Lotmanns Definition des symbolischen Raums ist in diesem Zusammenhang relevant. Er schreibt 1968 in „Künstlerischer Raum, Sujet, Figur“, dass der semantische Wert eines Zeichens aus Oppositionsbeziehungen wie ‚innen – außen’ oder ‚nah – fern’ entstehe. Bewegungen in daraus ableitbaren Teilräumen oder Grenzüberschreitungen von einem, Teilraum in den anderen, lösten Handlungen aus. Die Untersuchung der Oppositionsstrukturen in Nizons Prosa sind dort aufschlussreich, wo sie zeigen, dass Grenzüberschreitungen zwar stattfinden, sie aber keine Handlungen auslösen, Räumen in Nizons Prosa also keine tragende Rolle bei der Konstruktion von Geschichten zukommen.

Auch der Begriff ‚Chronotopos’ lässt sich im Zusammenhang mit Nizons Werk fruchtbar machen: Michail Bachtin übernimmt ihn in seinem 1973 beendeten gleichnamigen Essay aus der Relativitätstheorie und begründet damit eine Raum-Zeit-Einheit. Bachtin versteht unter Chronotopoi gattungstypische und historisch veränderbare Konkretisierungen von Zeit im Raum. Erwähnenswert ist Bachtins Ansatz besonders wegen seiner Äußerung über die Geschichte autobiographischen Schreibens: Er unterscheidet die platonische und die rhetorische Autobiographie: Die platonische Autobiographie sei charakterisiert durch Raum-Zeit-Konstellationen eines Lebensweges, die rhetorische Autobiographie sei eine Verteidigungsrede (allerdings kein persönliches oder intimes Selbstkenntnis), deren Realisierungsort die Agora, der öffentliche Platz, sei. Gleichzeitig mit gesellschaftlichen Veränderungen verändere sich auch der reale Ort, an dem sich autobiographisches Schreiben realisiere: Der öffentliche Platz werde vom Zimmer verdrängt, die nach außen gerichtete Verteidigungsrede werde zum intimen Selbstgespräch mit Bekenntnischarakter.

Die Prosatexte Paul Nizons etablieren Zimmer und Platz als Orte autofiktionalen Schreibens. Allerdings ist der Platz kein öffentlicher Platz, kein Platz, an dem von einem Individuum vor der Gesellschaft Rechenschaft abgelegt würde. Die Referenz zum real-geographischen Raum wird abgeschwächt, in den Vordergrund tritt die subjektive Wahrnehmung eines Ortes, das individuelle Erleben. Der Platz – Nizons Minutenplätzchen – wird zur Metapher für den inneren Raum des Ich.

Die Bedeutung der inneren Räume des Ich oder der imaginativen Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik untersuchen Behrens und Steigerwald in „Raum – Subjekt – Imagination um 1800“ aus dem Jahr 2010. Sie skizzieren die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen dieser Umbruchzeit. Der physisch-kulturelle Raum habe sich zwischen 1770 und 1830 durch Mechanisierung und beginnenden Industrialisierung verändert. Dies habe die Darstellungen von Räumen in der Literatur beeinflusst: Zum einen träfen alte und neue Raumordnungen aufeinander, zum anderen zeigten sich „Fluchtbewegungen in die weiten Räume der Einsamkeit“ . Auch der Raumbegriff habe sich gewandelt: Durch Immanuel Kant sei die Vorstellung des empirischen Raums abgelöst worden von der Annahme, dass dem Erkennen des Raums vernünftigerweise etwas vorausgehen müsse. Raum und Zeit seien Ausprägungen eines Apriori. Behrens und Steigerwald erkennen hierin den Beginn der Weiterentwicklung eines Raumbegriffs, der sich vom Bild des Behälters verabschiedet und es durch die gegenläufige Auffassung ersetzt, dass nämlich „Raum lediglich der Schluss aus der Perzeption einer Relation zwischen verschiedenen Dingen ist, die wahrgenommen werden ... in der ‚Lage’ zueinander und zum Wahrnehmenden selbst hin.“ Der wahrnehmende Körper sei von einem Raumbegriff nicht mehr zu trennen. In der Literatur spiegle sich diese Entwicklung in der Erfindung des Panoramas und in der Gestaltung überwachter Räume wie dem Gefängnis oder der Klinik wider. Die Figur des sich langsam durch eine Landschaft bewegenden und die Natur betrachtenden Spaziergängers ermögliche die literarische Ausgestaltung von Innenräumen des Individuums und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Sehens. Zentral ist, dass sich „das Funktionsgefüge von Blick, Sehen und Anschauung“ und damit der Imaginationsbegriff verändert: Der Imagination wird als Mittlerin zwischen Innen- und Außenwelt ein Erkenntniswert zugeschrieben.

Der Imaginationsbegriff ist vor allem bei der Konzeption eines hybriden oder real-imaginierten Raums von Bedeutung: Meditation, Kontemplation und romantische rêverie beispielsweise sind nicht nur Strategien zur Aneignung von Welt, sondern ihnen wird zugestanden, dass sie etwas über die Wirklichkeit oder Welt aussagen können. Die Wahrnehmung der Welt generiert sich nicht aus der Imagination, aber Imagination ist ein gestaltbildender Teil der Wahrnehmung. Diese Position findet mehr als hundert Jahre später Eingang in die Erkenntnistheorie der Phänomenologen. Sie untersuchen was sich zeigt und wie es sich zeigt und können dabei auf einen Erscheinungsraum nicht verzichten.

Der Phänomenologe Gaston Bachelard bietet mit seiner „Poetik des Raums“ von 1968 eine Sammlung von Metaphern und Motiven an, mit denen sich Raumerleben jenseits geometrischer Vorstellungen beschreiben lässt. Mit Bachelard kann man die in Nizons Prosa angelegte Oppositionsstruktur ‚innen/außen’ (Bachelard nennt die Dialektik des Drinnen und Draußen eine Zerstückelungsdialektik) abschwächen und sich Räumen des Dazwischen, hybriden Räumen und einem Erleben des dynamischen Raums öffnen. Nizons autofiktionales Schreiben realisiert sich in Großstädten, in engen Zimmer in Mitten einer europäischen Metropole: in Barcelona, in Rom, in Paris. Diese europäischen Metropolen nehmen in Nizons Prosa einen besonderen Platz ein: Hier sollen seine Figuren zum Leben erweckt werden. Urbane Räume sind innerhalb dieser Prosa eine Voraussetzung der imaginären Verortung des spätmodernen Individuums. Hier werden aber auch die Dissoziierung des Ich und die gebrochene Weltwahrnehmung platziert. Gudrun Lehnert stellt fest, dass wir uns in einer neuen raumzeitlichen Umbruchphase bewegen: Die Entwicklung der Metropolen und neue ästhetische Praktiken schaffen „ständig neue, zunehmend fragmentarisierte Raumwahrnehmungen und -erlebnisse.“

Die innerhalb des Raumdiskurses gern benutzte ‚turn’- oder Paradigmenwechsel-Rhetorik möchte ich nicht aufgreifen, aber noch einmal festhalten, dass Raumerleben an die Wahrnehmung und an ein Individuum gebunden ist. Eine Phänomenologie des Raums ist ohne einen starken Begriff des Erlebens oder der Erfahrung nicht denkbar. Ihre Grundmotive sind die Körper- und Fremderfahrung. Diese Erfahrung bildet sich in Nizons poetischem Verfahren ab. Seine Figuren sind Marschierer, deren innere Gedankengänge mit ihren Körperbewegungen synchronisiert sind. Seine Figuren laufen oder halten still. Sie vermeiden es langsam zu gehen und bleiben vor dem Abgrund stehen, um nicht zu stürzen. Wenn sie sich vertikal orientieren, dann bevorzugen sie das Fliegen: Sie sitzen unten fest und projizieren sich in der Meditation, in der Kontemplation oder im Traum nach oben. Repräsentationsformen von Raum in Nizons Prosa sind Plätze oder Schachtelzimmer, sehr weite oder sehr enge Räume. In den engen Schachtelzimmern wird geschrieben. Der Marschierer ist ein sich durch Großstädte bewegender und in einem engen Zimmer (er)schreibender Mensch. Bewegung (und ihr Komplement Stillstand) und Schreiben sind in Nizons Prosa untrennbar miteinander verbunden.

Der Schriftsteller erschreibt sich in seinen Prosatexten andere Räume. Es sind die Schreiborte oder Schachtelzimmer, die Straßen in Paris, durch die er Figuren marschieren oder Busfahrten unternehmen lässt, es sind Plätze in Rom und Bordelle oder Hotelzimmer in Paris und Barcelona. Gleichzeitig, und das halte ich für eine Eigenheit autofiktionalen Schreibens, erschreibt der Schriftsteller sich selbst an diesen Orten. Ich bin ein vorbeistationierender Autobiographie-Fiktionär.

Der Schlüsselsatz dieses Artikels beginnt mit den Worten „Ich bin ein“. Nizons ‚Autofiktionen’ sind, immer auch existenzorientiert, d.h. sie fragen nach der Verfasstheit des Menschen. Das Ich in Nizons Literatur bezieht sich nicht auf den einen, den singulären Autobiographie-Fiktionär, es ist eines von vielen. Die Frage nach der conditio humana wird dabei niemals absolut oder essentialistisch, denn sie bleibt stets an den Vorgang des Schreibens gebunden und sich so ihrer Sprachverfasstheit bewusst. Nizon formuliert humorvolle Antworten, die den Menschen bei seinen Flugversuchen zeigen: Bei ruhelosen Falkenflügen oder zappeligen Trapezkunststückchen über Paris, der Geburtsstadt der (Sprach-)Künstler.

Anne Schülke geboren 22.1.1973 in Düsseldorf. Promotion mit ‚Autofiktion’ im Werk Paul Nizons, erschienen bei Aisthesis. Lehraufträge an der Universität Düsseldorf. Vorträge auf internationalen Kongressen. Literarische Veröffentlichungen in Lichtungen, Kultur und Gespenster und bei textem. 1. Preis des Essaywettbewerbs der Universität Düsseldorf 2011. Mitherausgeberin des No-ISBN-Projekts zat – Heft für interdisziplinäre Kunst. Produktion von Videoessays mit Detlef Klepsch. Kunst- und Literaturvermittlung in Kooperation mit der Landeshauptstadt Düsseldorf, dem Land NRW, Stiftungen und Museen.

publié par Isabelle Grell